Man stelle sich vor, die Polizei würde eine Person für Wochen festhalten, nur weil sie als «unangepasst» gilt. Die Empörung wäre riesig. Medien und Politik würden einen Skandal wittern, von Willkür und Rechtsstaatlichkeit wäre die Rede. Doch was auf offener Strasse undenkbar wäre, geschieht in der Schweiz tagtäglich, abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit und mit gesetzlicher Legitimation: Die sogenannte fürsorgerische Unterbringung (FU).
Ein Entscheid mit weitreichenden Folgen, per Formular und Unterschrift
In der Schweiz genügt es, wenn ein Arzt oder eine Ärztin mit Berufsausübungsbewilligung eine Person für «behandlungsbedürftig» hält. Ohne gerichtliche Anhörung, ohne unabhängiges Gutachten und oft ohne ernsthaften Rechtsschutz wird ein Mensch aus seinem Alltag gerissen und zwangsweise in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, manchmal für Wochen, manchmal länger. Die Schwelle für diesen massiven Eingriff in die Grundrechte ist in der Schweiz erschreckend tief. Mit mehr als 14’000 FU-Anordnungen jährlich und einer der höchsten Raten in Europa steht die Schweiz schlecht da. Die kantonalen Unterschiede sind enorm, das System gleicht einem Flickenteppich. Während im einen Kanton besonders restriktiv mit der FU umgegangen wird, genügt im nächsten bereits eine vage ärztliche Einschätzung.
Fehlende Kontrolle und fehlender Rechtsschutz
Was in anderen Ländern nur unter strengsten Voraussetzungen und nach einer gerichtlichen Prüfung möglich ist, geschieht hierzulande häufig nach dem Ermessen einer einzelnen Person. Es genügt ein ausgefülltes Formular und eine Unterschrift. Zwar besteht theoretisch die Möglichkeit einer nachträglichen gerichtlichen Überprüfung, doch in der Praxis ist der Rechtsschutz schwach, und viele Betroffene wissen nicht einmal, wie sie sich zur Wehr setzen können. Die Dunkelziffer derjenigen, die aus Angst, Scham oder Unwissenheit keine Beschwerde einlegen, bleibt hoch.
Das ärztezentrierte Modell als Schwachstelle
Ein zentrales Problem liegt im Schweizer Modell selbst: Die Entscheidung über eine FU liegt nahezu ausschliesslich in der Hand einer einzelnen Ärztin oder eines einzelnen Arztes. Dieses ärztezentrierte System gilt als überholt. Es ignoriert, dass psychiatrische Krisen oft komplex und vielschichtig sind und eine sorgfältige, multiprofessionelle Abklärung erfordern würden. Eine mögliche Lösung wäre, die Entscheidungsbefugnis auf mehrere Schultern zu verteilen: Pflegefachpersonen, andere Fachleute aus dem Sozial- und Gesundheitswesen sowie auch Angehörige sollten systematisch in den Entscheidungsprozess einbezogen werden. Darüber hinaus wäre es zeitgemäss und rechtsstaatlich geboten, die FUs erst nach einem richterlichen Entscheid und auf Basis eines zweiten Gutachtens anzuordnen. Erst durch eine solche multiprofessionelle Einschätzung lassen sich Fehlentscheide reduzieren und die Rechte sowie das Wohl der Betroffenen besser schützen.
Das Schweigen der Betroffenen und der Drang nach Freiheit
Viele Menschen, die von einer FU betroffen sind, schweigen aus Scham, Angst oder dem Gefühl, sowieso machtlos zu sein. Nur wenige wagen es, über ihre Erfahrungen zu sprechen oder sich aktiv zur Wehr zu setzen. Im Klinikalltag zeigt sich dieses Muster deutlich: Betroffene verhalten sich angepasst, sagen das, was das Personal hören will, und versuchen so, möglichst rasch ihre Entlassung zu erreichen, unabhängig davon, ob sie tatsächlich krank sind oder nicht. Der Wunsch nach Freiheit ist oft stärker als alles andere. Dieses System belohnt gezwungene Anpassung und unterdrückt authentische Kommunikation und Verhalten, was nicht nur die therapeutische Beziehung erschwert, sondern das ganze therapeutische Konzept ad absurdum führt. Am Ende verlieren viele Betroffene das Vertrauen in die Psychiatrie und lernen, künftig nicht mehr ehrlich über ihre Probleme zu sprechen. Kein Wunder also, dass sich viele von der Psychiatrie abwenden.
Internationale Beispiele: Es geht auch anders
Andere Länder sind längst weiter:
- Deutschland: Eine Zwangseinweisung ist nur nach einer umfassenden psychiatrischen Begutachtung und richterlichen Entscheidung möglich.
- Frankreich: Auch hier ist eine richterliche Kontrolle Pflicht, und meist sind mehrere Fachleute in die Entscheidung einbezogen.
- Schweden oder Norwegen: Strenge gesetzliche Vorgaben und multidisziplinäre Einschätzungen sorgen dafür, dass Freiheitsentzug nur als letztes Mittel in Frage kommt.
All diese Länder zeigen, dass ein modernes, rechtsstaatliches Verfahren sowohl den Schutz der Allgemeinheit als auch die Rechte des Einzelnen gewährleisten kann, ohne vorschnelle, ärztliche Einzelentscheidungen.
Menschenrechtlich hochproblematisch
Internationale Organisationen und Menschenrechtsgruppen kritisieren die Schweizer Praxis seit Jahren. Es fehlt an Transparenz, Kontrolle und effektiven Rechtsmitteln. Zwang darf in einer modernen Gesellschaft immer nur das letzte Mittel sein, wenn alle anderen Optionen ausgeschöpft sind. In der Realität ist die FU in der Schweiz aber oft das erste und einzige Mittel, sobald jemand als schwierig oder «nicht kompatibel» gilt.
Fazit: Es braucht endlich echte Reformen
Die Schweiz muss sich die Frage stellen, warum sie im Bereich der Zwangseinweisung weit hinter anderen europäischen Ländern zurückliegt. Es braucht dringend strengere gesetzliche Vorgaben, verpflichtende unabhängige Gutachten, richterliche Überprüfung vor einer Unterbringung, und vor allem mehr Respekt vor den Grundrechten der Betroffenen. Die fürsorgerische Unterbringung, wie sie heute praktiziert wird, ist ein systematisches Unrecht, das so nicht länger hingenommen werden darf.
Quellen: